Wie Neurentner der Armutsfalle entkommen
10. April 2019, von Susanne Kapfinger
Durch die Industriestaaten hallt ein regelrechter Renten-Aufschrei, während Schweizer sich im Stillen sorgen. Ob hierzulande oder ennet der Grenze, überall sind Politiker gefordert, Lösungen für ähnliche Probleme zu finden. Denn: Kommt die Altersvorsorge aufs Tapet, zeigen die Sorgenbarometer in ganz Europa hohe Werte. Viele fürchten sich vor Altersarmut.
Die Sorgen sind nachvollziehbar. Der Arbeitsmarkt hat sich in den vergangenen 25 Jahren stark gewandelt. Dazu beigetragen haben mehr Teilzeitarbeit, befristete Verträge und Freelance oder ein späterer Einstieg ins Berufsleben. Grund zur Sorge bereiten Erwerbsunterbrüche (insbesondere bei Müttern) und ungenügende soziale Absicherung im Niedriglohnbereich. Das sind die potenziellen Ursachen für Altersarmut. Hinzu kommt, dass allein wegen der alternden Gesellschaft sinkende Renten zu erwarten sind und sowohl Löhne als auch Zinsen stagnieren.
Schlechte Prognosen für Rentner
Allen Sorgen zum Trotz, sind ältere Menschen relativ zu anderen Altersgruppen selten arm – die Schweiz ist hier eine Ausnahme. Die Altersgruppe der über 65-Jährigen trägt in unseren Nachbarländern das geringste Risiko von Armut betroffen zu sein. Deren Armutsquoten liegen gemäss OECD (2016) unter zehn Prozent. Mit anderen Worten: Knapp zehn Prozent der Rentner leben mit weniger als der Hälfte des im jeweiligen Land verfügbaren Medianhaushaltseinkommens. Die Werte für Frankreich liegen noch tiefer.
Dagegen ist die Armutsquote der Schweizer Rentner doppelt so hoch wie in Deutschland, Österreich oder Italien. Rentner tragen hierzulande das höchste Armutsrisiko. Es ist laut OECD-Studie viermal höher als dasjenige der Erwerbstätigen. Der relativ hohe Wert hängt teils damit zusammen, dass sich viele Rentner für den Kapitalbezug statt der Rente entscheiden. Dieser gilt nicht als Einkommen. Trotzdem sind die Werte ernst zu nehmen, weil der Kapitalbezug bevorzugt von besser situierten Haushalten vorgenommen wird.
Es ist davon auszugehen, dass die gegenwärtigen Entwicklungen vermehrt zu Altersarmut führen werden. Auch scheinen steigende Wohn- und Gesundheitskosten insbesondere kleine Renteneinkommen überproportional zu belasten. Offizielle Prognosen für die Schweiz fehlen. In Deutschland hat sich das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung aber auf die Äste gewagt: Ab 2036 soll jeder fünfte Neurentner von Altersarmut bedroht sein. Als armutsgefährdet gilt jemand, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung zur Verfügung hat.
Moderne Mittel gegen Altersarmut
Wir müssen darüber nachdenken, wie dieser Dynamik Grenzen gesetzt werden können. Geht es um die Armutsbekämpfung, weist das Dreisäulensystem drei Schwachstellen auf. Erstens beträgt der Abdeckungsgrad der 2. Säule 50 bis 60 Prozent der Rentner. Am Einkommen der ärmsten 20 Prozent der Rentner machen Leistungen aus der 2. Säule kaum fünf Prozent aus. Nach Ansicht von ProSenectute sichert die berufliche Vorsorge vor allem die Einkommen des Mittelstandes und der Oberschicht.
Zweitens sind die AHV-Renten allein auch bei maximaler Höhe nicht existenzsichernd und ein beträchtlicher Teil der Rentner erhält keine Maximalrente. Drittens ist die Säule 3a bei der Bekämpfung von Altersarmut unbedeutend – sie spielt für Haushalte im unteren Einkommenssegment kaum eine Rolle. Moderne Armutsbekämpfung heisst deshalb: Sozialversicherungspflicht für alle Löhne – unabhängig von Auftragsverhältnis und Betrag – sowie eine Nachzahlungspflicht für Menschen mit Erwerbslücken.
Weiter ist der Arbeitsmarkt als vierte Säule zu stärken. Es soll sich lohnen, knappe Renten über Erwerbseinkommen zu verbessern. Heute fehlen allerdings die finanziellen Anreize dazu. Steuerliche Erleichterungen könnten dies ändern – sie könnten das Grenzeinkommen erhöhen. Mancherorts diskutiert wird auch die Grundrente als vierte Säule – analog zum Grundeinkommen. Der Nachteil: Es senkt zwar die absolute Armutsquote der Rentner, aber nicht die relative.