Sparen beginnt beim Anderen
Susanne Kapfinger, Ökonomin und Leiterin Redaktion AWP Soziale Sicherheit
Die Zahl der Neurentner in der Schweiz steigt stärker als die Bevölkerung wächst. Laut den neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik bezogen rund 96 300 Menschen 2021 neu eine AHV-Rente. Das entspricht einer Zunahme um 2,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Aus der beruflichen Vorsorge bezogen rund 45 000 Menschen neu eine Rente. Das sind 1,3 Prozent mehr als im Vorjahr. Das Bevölkerungswachstum belief sich dagegen auf 0,8 Prozent. Hier zum Kern des Problems: Mehr ältere Menschen brauchen mehr Gesundheitsfürsorge. Das spiegelt sich in den Gesundheitskosten: sie wachsen – und zwar stärker als die Wirtschaft. Das könnte die obligatorische Krankenversicherung als Sozialversicherung gefährden.
Wenig soziale Sozialversicherung
Denn die Kostenexplosion im Gesundheitswesen überträgt sich auf die Prämienentwicklung in der Grundversicherung. Diese Prämien sind für viele nicht mehr tragbar – trotz individueller Prämienverbilligungen. Es muss gespart werden. Dem widerspricht zwar niemand. Doch bei sich beginnen, will auch niemand. Für Patientinnen und Patienten, die Ärzteschaft, Pharmabetriebe und Spitäler ist das Obligatorium ein Fass ohne Boden. Jeder kann sich daraus holen, was er braucht: Während Leistungserbringer Rechnungen stellen, zahlen Patientinnen und Patienten den Selbstbehalt und überlassen den Rest der Krankenversicherung. Sie managt den Zahlungsverkehr. Das ist einfach, weil die gemeinsame Kasse nie leer ist: Die Krankenversicherer dürfen ihre Prämien an die Kosten anpassen. Das Resultat: Dem Kostenwachstum sind keine Grenzen gesetzt.
Gesundheit hat keinen Preis
Das Hauptproblem liegt wie bei so vielem im Preis. Für Erkrankte hat Gesundheit den höchsten Preis. Solange es die Krankenversicherung ermöglicht, sind sie bereit für ein Versprechen für Heilung jeden Preis zu zahlen. Im Gesundheitsmarkt regulieren Preise die Nachfrage nicht – so wie in anderen Märkten. Es gibt also keinen Preiswettbewerb. Das zweite Problem ist die Qualität. Auch hier herrscht wenig Wettbewerb, weil die Leistungserbringer unabhängig davon bezahlt werden, ob das Heilungsversprechen eingelöst wird.
Das dritte Problem ist ein politisches: Das Parlament liess den Bundesrat mehrmals auflaufen, etwa mit dem Nein zum Referenzpreissystem für in der Schweiz vergleichsweise teure Generika. Parlamentarierinnen und Parlamentarier wollen den Bedürfnissen von Patienten, Ärzteschaft, Spitälern, Pharma und der Krankenkassen gerecht werden. Die verschiedenen Interessen lassen sich nicht unter einen Hut bringen.
Es braucht gute Preise
Auswege aus dem Dilemma gibt es. An Vorschlägen mangelt es nicht: Der Spitalverband H+ hat neue Ideen zur Spitalfinanzierung und der Krankenversicherungsverband Santésuisse hat mit seinem Leistungsstopp an Psychotherapeuten in Ausbildung für Aufsehen gesorgt. Beide Vorschläge haben eines gemeinsam: Es soll bei den Anderen gespart werden.
Doch wenn es ein Preisproblem gibt, soll auch beim Preis angesetzt werden. Das ist teils geschehen mit der Einführung von Tarifsystemen, wie Tarmed, SwissDRG und ambulanten Pauschaltarifen. Weitere Preis-Massnahmen sind im Parlament hängig: Die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für Preismodelle, die einen kostengünstigen Zugang zu innovativen, teuren Arzneimitteln und Therapien ermöglicht oder eine neue Regelung der Apothekenleistungen. Wie viel Geld mit diesen Massnahmen eingespart wird, ist unsicher. Die beste Lösung wäre, wenn nur für Heilung bezahlt würde, für ein leeres Versprechen aber nicht. Das ist zwar schwer messbar, würde aber für Wettbewerb sorgen, die Qualität erhöhen und die Kosten senken.