Programm für das Hundert-Jahre-Leben
05. September 2018, von Susanne Kapfinger
Es müssen Renten, Gesundheits- und Sozialfürsorge für immer mehr ältere Menschen sichergestellt werden. Dass dies auch in Zukunft gelingt, wird von vielen Schweizer Jugendlichen bezweifelt: Neu steht die Altersvorsorge an der Spitze des CS-Sorgenbarometers. Mitverantwortlich dafür dürften die gescheiterten Reformversuche sein und der damit einhergehende Vertrauensverlust in die Problemlösungskompetenz der Politik. Die Parlamentarier würden gut daran tun, die Ängste der Jugendlichen ernst zu nehmen, und ihnen zeigen, dass neben den konventionellen Lösungsansätzen auch neue in Erwägung gezogen werden. So sollte etwa die Langlebigkeit nicht nur als Problem betrachtet werden, sondern auch als Chance.
Mit Blick auf Japan
In Japan findet derzeit ein radikales Umdenken statt. Premierminister Shinzo Abe will die 100-Jahre-Gesellschaft aktiv gestalten. Dazu hat er 2017 einen Rat einberufen, der sich aus Ministern, Wissenschaftlern sowie Geschäfts- und Gewerkschaftsführern zusammensetzt. Denn in Japan ist das 100-Jahre-Leben längst Tatsache: Die Lebenserwartung eines Im Jahr 2007 Neugeborenen beträgt 107 Jahre. 27 Prozent der Bevölkerung sind über 65 Jahre alt, die Hälfte ist über 50.
Mit insgesamt mehr als 67 000 ist der Anteil an Hundertjährigen der weltweit höchste. Das hat dazu geführt, dass in der allgemeinen Sprachregelung die Definition von Älteren von über 65 auf über 75 revidiert wurde.
Arbeit hält gesund
Der Rat hat eine Vision erarbeitet, die auf der Einsicht beruht, dass Langlebigkeit zwar immer mehr Bürger mit sich bringt, die an Gebrechen leiden, viele jedoch auch länger gesund bleiben. Die meisten Japaner, ob aus finanziellen oder sozialen Gründen, wollen nicht mit 65 in Rente gehen. Laut Umfrage wollen 40 Prozent weiterarbeiten, bis sie physisch nicht mehr weitermachen können. Weitere 35 Prozent möchten mindestens bis 70 arbeiten. Im Jahr 2016 standen 3,4 Millionen über 69-Jährige noch im Berufsleben.
Diese Tatsache will sich Japan zunutze machen. Der Rat empfiehlt deshalb, die Arbeitswelt Senioren-tauglich zu gestalten. Dazu gehören zwei Massnahmen.
Erstens braucht es ein wachsendes Angebot an periodisch wiederkehrender Ausbildung. Denn das Leben besteht nicht länger aus den drei Phasen Bildung, Arbeit und Ruhestand. Vielmehr gibt es ein Arbeitskontinuum von 50 Jahren, das in verschiedene Phasen der Weiterbildung und Umschulung eingeteilt sein wird.
Die zweite Massnahme betrifft eine Japanische Eigenheit. Unternehmen stellen die in Rente entlassenen Mitarbeiter zwar gerne wieder ein, weil die arbeitende Bevölkerung schrumpft. Das Problem: Für dieselben Positionen werden weniger vorteilhafte befristete Arbeitsverträge offeriert. Mit anderen Worten führt hier das offizielle Rentenalter zu einer systematischen Lohndiskriminierung älterer Arbeitnehmer. Dem will der Rat entgegenwirken, indem er die Lohnunterschiede zwischen Temporär- und Festangestellten reduziert. Ausserdem haben sich auch die Unternehmen der Herausforderung angenommen: So investieren etwa Technologie-Hersteller intensiv in Robotik und Exoskellett-Anzüge für ältere Arbeitnehmer.
Schweiz muss aufholen
Der japanische Ansatz ist der Schweiz nicht ganz unbekannt. So hat der Bundesrat etwa zusammen mit den Kantonen und Sozialpartnern die Nationale Konferenz «Ältere Arbeitnehmende» einberufen, die sich mit deren Lage beschäftigt. Ebenso unterstützt er gezielte Weiterbildungen zur Stärkung von Grundkompetenzen am Arbeitsplatz. Das reicht allerdings nicht.
Es braucht eine öffentliche Debatte zur Vision der 100-Lebensjahre-Gesellschaft: Wie wollen wir ab 65 die nächsten 35 Jahre verbringen? Schweizer definieren sich – wie die Japaner – über die Arbeit. Es ist deshalb naheliegend, dass sich aus der Langlebigkeit auch ein längeres aktives Berufsleben ergibt. Dazu müssen wir erstens über die Institutionalisierung wiederkehrender Bildungschancen nachdenken. Zweitens sind alle Massnahmen, die ein höheres Alter auf dem Arbeitsmarkt diskriminieren, wie die altersgestaffelten BVG-Beiträge oder das gesetzliche Rentenalter, aufzulösen.