Nicht den Bogen überspannen
Von Susanne Kapfinger, Redaktionsleiterin AWP Soziale Sicherheit
Die Schweiz prosperiert, die Einwohner zählen zu den reichsten der Welt. Dafür mitverantwortlich ist auch unser Sozialversicherungssystem, das auf Solidarität unter den Generationen gebaut ist. Dieses Für- und Miteinander, Grundpfeiler unseres Erfolgs, steht aber mehr und mehr auf wackligen Beinen. Die Bevölkerungsentwicklung und gesellschaftlichen Veränderungen zeigen: Es braucht in verschiedenen Werken eine neue Formel. Die Schweiz vergreistDie neusten Prognosen und Statistiken der Bundesämter machen es deutlich: Die Schweiz vergreist sehr schnell. Die Bevölkerungsalterung widerspiegelt sich in einer sehr starken Zunahme der Anzahl Personen ab 65 Jahren im Verhältnis zur Erwerbsbevölkerung. 2019 entfielen auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (20–64 Jahre) 35 Personen, die älter sind als 65 Jahre. Dieser Anteil wird bis 2050 auf 53 ansteigen – vorausgesetzt, dass sich die beobachteten Entwicklungen fortsetzen. Lesen Sie mehr dazu ab Seite 8.
Finanzierungsquellen austarieren
Das sorgt bei der AHV und anderen umlagefinanzierten Sozialversicherungen für Sand im Getriebe. Die stark wachsenden Ausgaben stimmen immer weniger mit den Einnahmen überein. 2019 gab die AHV 45,3 Milliarden Franken aus und nahm 44,1 Milliarden Franken ein. Die AHV-Finanzierung muss neu austariert werden. Das Umlagedefizit vergrössert sich mit jedem weiteren Jahr. Das System bricht vorerst nicht zusammen, weil unter anderem die vorangehenden Ge-nerationen Vermögen aufgebaut haben. 2019 belief sich das AHV-Kapital auf 45,2 Milliarden Franken. Dieses Vermögen wirft Anlageerträge ab. Es gibt aber noch andere Finanzierungs-quellen. Während die Versicherten im letzten Jahr 32,5 Milliarden Franken bei-steuerten, flossen vom Bund als zweitwichtigste Finanzierungsquelle 8,8 Mil-liarden Franken in die Kasse. Über das Mehrwertsteuerprozent zugunsten der AHV wurden Einnahmen von 2,4 Milliarden Franken erzielt. Theoretisch kann auch Vermögen verzehrt werden. Doch das AHV-Vermögen ent-spricht schon jetzt nicht mehr ganz einer Jahres-ausgabe. Würde der Sicherheitspuffer verzehrt, kannibalisiert man zudem eine Finanzierungsquelle.
Stimme der Jungen
Zur Austarierung der Finanzierungsquellen schlägt der Bundesrat im Zuge der AHV-Reform folgendes vor: Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,7 Prozentpunkte, gleiches Rentenalter für Mann und Frau (65 Jahre). Das würde die AHV bis 2030 stabilisieren. Jungparteien aller Couleur und Freisinnige befürworten aber das Rentenalter per se zu erhöhen. Damit bliebe die Wirtschaft von höheren Lohnabzügen und Mehrwertsteuern verschont. Dies scheint auch die naheliegendste Lösung: sie ist systemkonform und sichert den Frieden zwischen den Generationen.
Zweiseitige Beziehung
Heute ist es vor allem die Babyboomer-Generation, die sich gegen eine Renten-altererhöhung stellt. Sie steht kurz vor der Pensionierung und wäre als erste davon betroffen. Ihr Vorteil: Es sind sehr viele – ihre Stimme an der Urne hat Gewicht. Die über 50-Jährigen müssen sich hier ins Gewissen reden. Denn die Ge-nerationensolidarität ist keine Einbahnstrasse. Wenn sie den Jüngeren jetzt nicht entgegenkom-men, sollten sie später auch keine Hilfe erwarten. Die Corona-Krise zeigt, dass Ältere trotz funktionierender Sozialwerke auf die Solidarität Jüngerer angewiesen sind. Eine Umfrage von gfs Zürich zeigt, dass gerade die Babyboomer unsicher sind, ob die Alterssolidarität langfristig nicht belastet wird. Wenn sie den Bogen nicht überspannen, müssen sie aber nichts befürchten.