Krisen erhöhen Sozialkosten
Susanne Kapfinger, Ökonomin und Leiterin Redaktion AWP Soziale Sicherheit
Die Welt steckt nicht nur in der Klimakrise, sondern auch in einer Energiekrise: Die Preise für Heizung steigen und es ist von Strommangel die Rede. Die rasante Teuerung hat sogar das Potenzial, Sozialkrisen auszulösen. Insgesamt vertiefen die Krisenherde aber die Nachhaltigkeitsdebatte.
Schweiz ist (k)eine Insel
Die Schweizer Konjunktur entwickelt sich zufriedenstellend – auch nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs. Im Gegensatz zu den europäischen Pendants ist die hiesige Wirtschaft weniger anfällig für hohe Energiepreise. Die Schweiz ist besser aufgestellt als Länder mit grosser Abhängigkeit vom Gas wie Italien oder Deutschland. Eine wesentliche Erhöhung der Arbeitslosigkeit wird nicht befürchtet. Der Bund lehnt deshalb Konjunkturprogramme ab. Auch puncto Inflation befindet sich die Schweiz auf Kurs: Mit 3,4 Prozent ist sie viel tiefer als in anderen Ländern. Laut Bund dürfte die Inflation ab Herbst sogar sinken.
Entwarnung? Die Situation für einkommensschwache Haushalte bleibt herausfordernd. Zugleich erfordert der Klimanotstand härtere Massnahmen. Die Energiewende hin zu einer sauberen Energiezukunft wird die Energiekosten erhöhen, weil Investitionen dazu nötig sind. Mehr Kosten verursachen auch zunehmende Umweltkatastrophen, wie Hitzewellen, Dürren, Waldbrände, Überschwemmungen und Wirbelstürme. Die Krisenherde sind also nicht vom Tisch.
Risiko: soziale Unruhen
Es gibt verschiedene Vorgehensweisen diese Probleme zu lösen. Politiker rufen Sozialprogramme aus und Investoren schärfen ihre ESG-Optik. Der Chefökonom des Bundes, Eric Scheidegger schlägt beispielsweise gezielte Entlastungsmassnahmen für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen vor. Temporär erhöht werden könnten die Krankenkassenprämienverbilligungen und Sozialhilfe. Auch eine Anpassung der AHV-Renten und Ergänzungsleistungen stellt er zur Diskussion. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund verlangt dagegen kräftige Lohnerhöhungen. Steigende Preise für Heizung, Lebensmittel und Krankenkassenprämien würden etwa fünf Prozent mehr Lohn rechtfertigen. Sonst drohten soziale und politische Unruhen, so die Kampfansage. Laut Versicherungsexperten könnten allein die Krankenkassenprämien im schweizweiten Durchschnitt um 5,4 Prozent steigen.
Auch Investoren sind immer mehr davon überzeugt, dass die Bewältigung von ESG-Themen kein Kartenspiel ist, bei dem der Klimawandel ganz oben gehandelt wird. Der Fortschritt muss umfassender sein. Denn die aktuellen Risiken bändigen kann man nur, wenn sie ausgewogen gehandhabt werden. Sollen die Herausforderungen erfolgreich bewältigt werden, muss das Spiel fair gespielt werden. Ohne soziale Fortschritte wird es nicht gelingen, global eine klimafreundliche Wirtschaft aufzubauen, sagen wichtige Vertreter der Finanzindustrie. Lesen Sie dazu das Interview ab Seite 3.
ESG-Optik schärfen
Wichtig ist, dass institutionelle Investoren wie Pensionskassen, die ihre ESG-Optik schärfen, auf den Rückhalt ihrer Versicherten zählen können. Eine Umfrage der AXA Schweiz zeigt: Die Mehrheit der Befragten wollen, dass Vorsorgegelder nachhaltig angelegt werden. Dabei darf der soziale Aspekt nicht zu kurz kommen. 77 Prozent der Frauen und 59 Prozent der Männer wünschen deutlich häufiger Investitionen in die Gesundheitsversorgung, soziale Gerechtigkeit, Armutsbekämpfung und Chancengleichheit. Bereiche, in die nicht investiert werden soll, kommen ebenso deutlich zum Ausdruck: Unternehmen, die in Zusammenhang mit Kinderarbeit, Menschenrechtsverletzungen, Alkohol, Glücksspielen und der Waffenindustrie gebracht werden, lehnen rund 90 Prozent ab.