Ketten der Vorsorge sprengen
Susanne Kapfinger, Ökonomin und Leiterin Redaktion AWP Soziale Sicherheit
Wer weniger verdient, stirbt früher. Das ist die harte Wahrheit, die sich aus Zahlen des Bundesamtes für Statistik ergibt. Es bedeutet zweierlei. Erstens zeigen die sozialen Unterschiede bei der Mortalitätsrate und der Lebenserwartung die negativen Auswirkungen sozialer Ungleichheit. Zweitens profitiert vom Sozialstaat womöglich die falsche Gruppe, nämlich die sozial Bevorzugten. Der Generationenvertrag müsste unter diesem Aspekt neu erdacht werden.
Es gibt einen zweiten Grund, weshalb der Generationenvertrag umgeschrieben werden sollte. Dazu folgende Überlegung: Die Bevölkerungsalterung kann als Wohlstandsindikator verstanden werden. Weil im Allgemeinen mit zunehmendem Wohlstand die Menschen länger leben. Obwohl nun der Wohlstand steigt bringt der demografische Wandel den Sozialstaat und die AHV in Bedrängnis. Das scheint ein Widerspruch zu sein, den es aufzulösen gilt. Der Sozialstaat muss wieder tragfähig gemacht werden. Dazu gibt es eine radikale Idee.
Radikal liberale Umwälzung
Neoliberale Ökonomen, wie Thomas Straubhaar halten nur «besser arbeiten» für eine valable Lösung. Die Arbeitsproduktivität liesse sich durch eine grundsätzliche Reform der Sozialpolitik nachhaltig steigern, sagt er und plädiert für das bedingunslose Grundeinkommen unter einer Bedingung: steuer- und beitragsfinanzierten Sozialleistungen müssten abgeschafft werden, ebenso wie der Kündigungsschutz und Mindestlöhne. Das klingt schon sehr radikal liberal: Mit einem Grundeinkommen braucht es keine AHV, Arbeitslosen- oder Invalidenversicherung mehr. Der Knackpunkt bleibt die Höhe des Grundeinkommens – soll es der Existenzsicherung dienen oder für einen anständigen Lebensabend ermöglichen?
Gerontologie fordert Umdenken
Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen würden die Grenzen, in denen die Vorsorge via Rentenalter gefangen ist, aufgesprengt. Es gibt viele Gründe die dafür sprechen. Altersforscherinnen und -forschern ist das gesetzliche Rentenalter zu absolut. Auch für Soziologen wie François Höpflinger ist der Entscheid, Menschen über 65 Jahren pauschal zur Risikogruppe zu zählen willkürlich. Damit werde den neuesten Erkenntnissen aus der Geriatrie und der Gerontologie nicht Rechnung getragen. Denn die so genannt «jungen Alten» zwischen 65 und 79 Jahren sind erwiesenermassen gesünder und biologisch jünger als die gleiche Altersgruppe früherer Generationen.
Psychisch belastend
Ein weiterer Grund sich vom gesetzlichen Rentenalter zu verabschieden: Mit der Ü65-Alterspolitik wird eindeutig ein defizitorientiertes Altersbild transportiert, sagen Entwicklungspsychologinnen und -psychologen. Das fördert die Altersdiskriminierung und belastet die Generationenbeziehungen, warnen sie. In einer langlebigen Gesellschaft braucht es aber das verständnisvolle Miteinander, sonst stosst jegliche Vorsorge an Grenzen – und zwar an Verständnisgrenzen.
Das gilt es zu verhindern. Dazu braucht es den Austausch zwischen den Generationen. Am Arbeitsmarkt geschieht das am einfachsten über ein Generationenmanagement. Um ältere Arbeitnehmer am Arbeitsplatz halten zu können sind aber auch passende Angebote nötig. Dazu zählt mehr Flexibilität oder Arbeiten in Teilzeit. So könnten Ältere auch im Kampf gegen den Fachkräftemangel eine wichtige Rolle spielen.
Ein Grundeinkommen macht aber das Rentenalter obsolet – und dessen negativen Folgen lösen sich auf. Alle Menschen hätten die gleichen Rechte am Arbeitsmarkt und im Sozialstaat hätten die verschiedenen sozioökonomischen Gruppen die gleichen Chancen. Die Bevölkerungsalterung verändert das gesellschaftliche Zusammenleben. Das sollte als Chance erkannt werden, positive Veränderung herbeizuführen.