BVG-Reform: Die versteckte Wirkung
Susanne Kapfinger, Ökonomin und Leiterin Redaktion AWP Soziale Sicherheit
Rente oder Kapital? Das ist die wichtigste Entscheidung bei der Pensionierung, denn sie ist irreversibel. Die Wahl zwischen einer lebenslangen Rente und einem Kapitalbetrag ist auch ein wichtiges politisches Thema: Einerseits sind Renten eine der besten Möglichkeiten, sich gegen das Armutsrisiko im Alter zu versichern. Andererseits wirkt sich die Wahl zwischen Rente oder Kapital durch ihre Rückwirkung auf Sozialversicherungen – sprich Ergänzungsleistungen zur AHV – auch auf die Gesellschaft aus. In einer alternden Gesellschaft ist es von grösster Bedeutung, die Folgen individueller Ruhestandsentscheidungen zu verstehen.
Kapitalbezug wird attraktiver
Bei der Auszahlungsentscheidung ist der Umwandlungssatz sicher eine Schlüsselgrösse. Menschen reagieren auf Anpassungen im Umwandlungssatz: Eine Senkung des Satzes, mit dem das Alterskapital in eine lebenslange Rente umgewandelt wird von 8 Prozent hat einen Rückgang der Verrentungsquote um 16,8 Prozentpunkte zur Folge. Das zeigt eine Untersuchung von Monika Bütler, Honorarprofessorin für Wirtschaftspolitik der Universität St. Gallen. Kleine Satzänderungen lösen hingegen keine Änderung des Auszahlungsverhaltens aus.
Die Reformvorlage BVG21 sieht eine Satzreduktion von 11,8 Prozent vor – von 6,8 auf 6,0 Prozent. Das legt nahe, dass sich mit der Reform mehr Menschen für den Kapitalbezug entscheiden werden. Ist das wünschenswert?
Risiken im Auge behalten
Mit einem Kapitalbezug sind Risiken verbunden. Erstens: Die meisten Menschen sind schlechte Anleger. Untersuchungen zeigen, dass Personen, die ihre Investitionen aktiv verwalten, im Durchschnitt schlechte Leistungen erzielen (Mislearning and poor performance of individual investors, 2022). Je öfter Anlageentscheide getroffen werden, desto schlechter wird die Performance – es fehlen Fähigkeiten für das Markttiming. Zweitens birgt der Kapitalbezug die Gefahr, dass die Einzelperson ihr Vermögen aufbraucht und im Alter auf Sozialhilfe angewiesen bleibt.
Steueranreize ausnutzen
Der Umwandlungssatz ist aber bei der Wahl zwischen Kapital und Rente nicht einzig machtentscheidend. Ein vernachlässigter Wertfaktor einer Rente ist die Differenzbesteuerung von Kapitalbezug und Rente. Wenn Einzelpersonen im Hinblick auf die Wahl des Ruhestands auf Steueranreize reagieren, könnten Steuern als «Anstupser» zur Verringerung der Altersarmut dienen. Eine steuerliche Bevorzugung von Rente statt Kapital könnte mehr Personen dazu bewegen, einen grösseren Teil ihres Rentenvermögens zu verrenten. Damit verringert man die Risiken, welche sich aus dem Kapitalbezug ergeben.
Eine Analyse der Uni St. Gallen zeigt, dass das möglich ist (How taxes impact the choice between an annuity and the lump sum at retirement, 2022). Personen mit einem Vermögen knapp über der Schwelle, ab der der Grenzsteuersatz auf den Pauschalbetrag steigt, wählen eine Kombination aus Rente und Pauschalbetrag, um in der unteren Grenzsteuersatzklasse zu verharren. Diese Steueroptimierungsstrategie wird laut Studie aber nur von relativ vermögenden Personen umgesetzt, für die sich ein solches Verhalten finanziell auszahlt und die möglicherweise besser informiert sind als weniger vermögende Personen.
Im dezentralen Steuersystem der Schweiz haben also Kantone und Gemeinden ein wichtiges Instrument zur Hand: Sie können die Verrentungsquote erhöhen, indem sie Kapital im Vergleich zum Einkommen stärker besteuern. Die Verrentungsquote lässt sich durch die Differenzbesteuerung von Kapitalbezug und Rente steuern.